Mit Urteil vom 22.05.2019 hat der BGH entschieden:
1. Eine Fortsetzung des Mietverhältnisses setzt nicht voraus, dass die aufseiten des Mieters
bestehende Härte die Interessen des Vermieters deutlich überwiegt. Maßgebend ist allein, ob sich
ein Übergewicht der Belange der Mieterseite feststellen lässt, also die Interessenabwägung zu
einem klaren Ergebnis führt.
2. Da sich ein hohes Alter eines Mieters und/oder eine lange Mietdauer mit einer damit
einhergehenden langjährigen Verwurzelung im bisherigen Umfeld je nach Persönlichkeit und
körperlicher sowie psychischer Verfassung des Mieters unterschiedlich stark auswirken können,
rechtfertigen diese Umstände ohne weitere Feststellungen zu den sich hieraus ergebenden Folgen
im Fall eines erzwungenen Wohnungswechsels grundsätzlich noch keine Härte im Sinne des §
BGB § 574 BGB § 574 Absatz I 1 BGB. Kommen zu diesen Umständen Erkrankungen hinzu (hier:
Demenz gemischter Genese), aufgrund derer beim Mieter im Fall seines Herauslösens aus seiner
näheren Umgebung eine – nach ihrem Grad nicht näher festgestellte – Verschlechterung seines
gesundheitlichen Zustands zu erwarten steht, kann dies in der Gesamtschau zu einer Härte führen.
Wenn der gesundheitliche Zustand des Mieters einen Umzug nicht zulässt oder im Fall eines
Wohnungswechsels zumindest die ernsthafte Gefahr einer erheblichen Verschlechterung der
gesundheitlichen Situation des (schwer) erkrankten Mieters besteht, kann sogar allein dies einen
Härtegrund darstellen
3. Werden von dem Mieter für den Fall eines erzwungenen Wohnungswechsels substanziiert ihm
drohende schwerwiegende Gesundheitsgefahren geltend gemacht, haben sich die
Tatsacheninstanzen bei Fehlen eigener Sachkunde regelmäßig mittels sachverständiger Hilfe ein
genaues und nicht nur an der Oberfläche haftendes Bild davon zu verschaffen, welche
gesundheitlichen Folgen im Einzelnen mit einem Umzug verbunden sind, insbesondere welchen
Schweregrad zu erwartende Gesundheitsbeeinträchtigungen voraussichtlich erreichen werden und
mit welcher Wahrscheinlichkeit dies eintreten kann.
4. Bei der Bewertung und Gewichtung der widerstreitenden Interessen beider Parteien im Rahmen
der nach § BGB § 574 BGB § 574 Absatz I BGB vorzunehmenden Interessenabwägung ist den
Wertentscheidungen Rechnung zu tragen, die in den für sie streitenden Grundrechten zum
Ausdruck kommen. Dabei haben die Gerichte zu berücksichtigen, dass bezüglich der Anwendung
und Auslegung des Kündigungstatbestands des § BGB § 573 BGB § 573 Absatz II Nr. BGB § 573
Absatz 2 Nummer 2 BGB einerseits und der Sozialklausel des § BGB § 574 BGB andererseits
dieselben verfassungsrechtlichen Maßstäbe gelten, so dass auch im Rahmen der Vorschrift des §
BGB § 574 BGB die vom Vermieter beabsichtigte Lebensplanung grundsätzlich zu respektieren
und der Rechtsfindung zugrunde zu legen ist. Diesen Vorgaben werden die Gerichte nicht gerecht,
wenn sie (wie das Berufungsgericht) dem Vermieter, der die Mietwohnung zum Zweck der
Selbstnutzung erworben hat, bei der Gewichtung und Abwägung der gegenläufigen Belange eine
geringere Bedeutung zumessen als bei der Beurteilung, ob dieses Vorgehen einen Eigenbedarf im
Sinne des § BGB § 573 BGB § 573 Absatz II Nr. BGB § 573 Absatz 2 Nummer 2 BGB begründet,
und einem solchen Nutzungswunsch einen geringeren Stellenwert als einem Eigenbedarf des
ursprünglichen Vermieters zuweisen.
5. Im Rahmen der Interessenabwägung haben die Gerichte nicht nur die Lebensplanung des
Vermieters zu respektieren, sondern dürfen auch bezüglich der Interessen des Mieters ihre
Vorstellungen über den einzuschlagenden Weg nicht an dessen Stelle setzen. Dies gilt
insbesondere dann, wenn es um das Schicksal älterer Personen geht.
6. Die Abwägung der gegenläufigen Interessen hat sich stets an den konkreten Umständen des zu
beurteilenden Einzelfalls auszurichten. Dabei kommt weder den Belangen des Vermieters noch
den Interessen des Mieters von vornherein ein größeres Gewicht zu als denen der Gegenseite.
Aus diesen Gründen ist es (anders als das Berufungsgericht annimmt) nicht zulässig, Kategorien
zu bilden, in denen generell die Interessen einer Seite überwiegen (hier: Selbstnutzungswunsch
des Erwerbers einer vermieteten Wohnung einerseits; nach langer Mietdauer eintretender
Eigenbedarf des ursprünglichen Vermieters andererseits).
7. Der Härtegrund des zu zumutbaren Bedingungen nicht zu beschaffenden Ersatzwohnraums ist
nicht bereits dann gegeben, wenn im Gemeindegebiet gerichtsbekannt eine angespannte
Wohnlage herrscht, die auch zum Erlass von diesem Umstand Rechnung tragenden Verordnungen
geführt hat. Eine festgestellte und/oder in Verordnungen zugrunde gelegte angespannte Wohnlage
kann allenfalls ein gewisses Indiz für das Vorliegen eines Härtegrunds nach § BGB § 574 BGB §
574 Absatz II BGB darstellen, das in Verbindung mit substanziiertem (unstreitigem oder
nachgewiesenem) Parteivortrag zu konkret ergriffenen Maßnahmen zu der tatrichterlichen
Überzeugung führen kann, dass angemessener Wohnraum zu zumutbaren Bedingungen für den
Mieter (und seine Familien- oder Haushaltsangehörigen) nicht zu erlangen ist.
8. Wenn aufseiten des Vermieters dringender Wohnbedarf besteht, haben die Gerichte im Fall eines
Überwiegens der Mieterinteressen im Rahmen der von ihnen zu treffenden
Ermessensentscheidung sorgfältig zu prüfen, ob eine Fortsetzung des Mietverhältnisses auf
unbestimmte Zeit angeordnet werden soll.
BGH, Urteil vom 22.5.2019 – VIII ZR 180/18